31, Sexarbeiter*in
Ich sehe ihn an einem Samstagmorgen. Allein sitzt er auf einem Mäuerchen am Regenbogenplatz, wirkt irgendwie entrückt. Aber etwas an ihm fasziniert mich. Ich fasse Mut, gehe auf ihn zu und frage, wie er heißt. „Flavio“, antwortet er aus übernächtigten Augen. Ich erzähle von meinem Projekt und frage, ob ich ihn fotografieren darf. Flavio denkt einen Moment nach und sagt mit ruhiger Stimme: „Nicht so.“ Er wolle sich erst ein paar Stunden hinlegen, sich frisch machen und umziehen. „Okay“, sage ich, „und wann treffen wir uns wieder?“ Wir einigen uns auf 15 Uhr. Flavio packt seine Sachen zusammen, setzt sich auf sein Fahrrad und fährt davon… Um 15 Uhr stehe ich wieder da und warte. Doch von Flavio keine Spur. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich gar keine Nummer von ihm habe. Es vergehen die Stunden, doch Flavio taucht nicht auf. Immer wieder will ich gehen, doch irgendwas hält mich zurück. Und schließlich, da sehe ich ihn, wie er auf seinem Fahrrad auf mich zufährt: Er trägt einen Hut, darunter eine strahlend blonde Perücke und sieht noch hinreißender aus als am Morgen.
Text von John Kolya Reichart