Exposé
„Bist du Eisenacher*in?“ lautete die erste Zeile meines Aufrufs, den ich überall in der Eisenacher Straße verbreitete – an Hauswänden und Straßenlaternen, auf Bürgersteigen und in Ladenlokalen. Mein Ziel war es, Menschen zwischen 1 – 100 Jahren zu finden, die sich mit der Straße verbunden fühlen und Lust haben, Teil meines Kiez-Projektes Eisenacher Hundert zu werden. Schon nach ein paar Stunden meldeten sich viele Interessierte zurück und so nahm das Projekt damals seinen Lauf.
Eisenacher Hundert ist eine von August Sanders berühmtem Werk Antlitz der Zeit inspirierte Fotoserie. Sie zeigt 100 Menschen, die in der Eisenacher Straße in Schöneberg leben oder arbeiten, zur Schule gehen oder hier geboren wurden. Die Besonderheit: Für jedes Lebensjahr von 1 bis 100 steht eine Person. So erzählt das Projekt in hundert Schwarzweiß-Portraits und persönlichen Texten ein langes Menschenleben, zusammengesetzt aus vielen unterschiedlichen Biographien.
Ich fotografierte mit einer 35mm-Kleinbildkamera, analog und in schwarz-weiß und stets mit einem ähnlichen Bildausschnitt, der die Protagonisten leicht untersichtig zeigt. So werden durch den immer gleichen fotografischen Stil Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Menschen deutlich. Gleichzeitig bringt jeder etwas ganz Eigenes, Unverwechselbares mit. Wichtig war mir zudem, dass alle Bilder einen direkten Bezug zur Straße haben. So entsteht durch die vielen verschiedenen Orte und Perspektiven in den Einzelportraits das Gesamtportrait einer Straße.
Für mich ist das Projekt Eisenacher Hundert die intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Nachbarschaft, die ich bisher viel zu wenig betrachtet habe. Im täglichen Trubel der Großstadt mit vollem Terminkalender und langen To-Do-Listen wird unsichtbar, was vor der Tür liegt: Eine vielseitige und bunte Welt voller spannender Menschen mit ihren einzigartigen Lebensgeschichten.
Die Eisenacher Straße gehört zu den längsten Straßen Schönebergs, führt von der Kleiststraße bis zur Hauptstraße und verändert ihr Gesicht auf diesen rund 2 km unzählige Male. Es gibt den mondänen Abschnitt mit schicken Cafés und Restaurants, den beschaulichen Teil mit dichtem Baumwuchs und großbürgerlichem Flair, einen recht kargen Zwischenteil mit einfachen 80er Jahre-Bauten, in denen viele Student*innen leben und schließlich den berühmt-berüchtigten Regenbogen-Kiez, Berlins schwuler Leder- & Fetisch-Bezirk inklusive Männerstrich.
Dementsprechend wild ist auch die Mischung an Menschen, die in der Eisenacher Straße zusammenkommen: Es gibt Ur-Berliner und Zugezogene, laute Familien und stille Einzelgänger, Biedermänner, Hausfrauen und Paradiesvögel. Und das Wunderbare ist: Sie alle leben nebeneinander in einer Straße so wie es unzählige gibt in dieser Stadt. Darum begreife ich das Projekt auch nicht als eine rein lokale Erzählung, sondern als ein Paradebeispiel für ein buntes Berlin, das sich im steten Wandel befindet. Bleibt zu hoffen, dass dem auch in den nächsten Jahren so bleibt…